Medical Gaslighting – Wenn Beschwerden ignoriert werden

Wenn Beschwerden ignoriert werden

“Die Schmerzen gehören zum Frausein dazu, damit muss man leben”, oder “das liegt nur am Stress”.

Hast du schon einmal Ärztinnen aufgesucht, weil du Beschwerden hattest und wurdest nicht ernst genommen? Oder wurden deine Probleme klein geredet? Dann kann es sein, dass du “Medical Gaslighting” erfahren hast. Medical Gaslighting ist ein Phänomen, von dem viele Frauen, aber auch andere Gruppen berichten.

Daher möchten auch wir Medical Gaslighting thematisieren. Wir möchten dich darauf aufmerksam machen und dir zeigen, was dahinter steckt und wie du dich dagegen wehren kannst.

Woher stammt der Begriff?

Der Begriff Gaslighting geht zurück auf den Titel des Theaterstücks “Gas Light” von 1938, das in den 1940ern unter dem Titel “Gaslight” verfilmt wurde. In dem Stück manipuliert ein Mann seine Frau systematisch und zerstört ihr Realitätsbewusstsein, indem er behauptet, Dinge nicht zu sehen, die sie wahrnimmt. Er dreht auch heimlich das Gaslicht herunter und erklärt seiner Frau, dass sie sich das Flackern des Lichts nur einbildet. Aus dieser Manipulationstaktik, die auch als psychischer Missbrauch gilt, entstand in den 60er Jahren dann ein psychologische Fachbegriff. Er wird verwendet, um Bemühungen zu beschreiben, jemandes Wahrnehmung der Realität zu manipulieren.

Das Prinzip von Gaslighting kann in ganz unterschiedlichen Bereichen vorkommen, wie zum Beispiel in Partnerschaften, im familiären Kontext oder auf der Arbeit. Zusätzlich gibt es eine spezielle Form: Das Medical Gaslighting. Darauf möchten wir in diesem Blogbeitrag eingehen.

Was ist Medical Gaslighting?

Medical Gaslighting ist ein Begriff, der verwendet wird, wenn medizinisches Fachpersonal Beschwerden von Patient:innen abweist/herunterspielt bzw. diese auf etwas anderes zurückführt (z.B. eine psychische Erkrankung). Oftmals werden Betroffene in der Folge als Hypochonder:innen* bezeichnet. Im Grunde bedeutet das, dass Patient:innen nicht ernst genommen werden und deshalb nicht die Behandlung bekommen, die sie mitunter benötigen. So werden Schmerzen als “normal/nicht so schlimm” abgetan oder Symptome auf Stress bzw. die Psyche geschoben. Besonders Symptome bei Frauen werden unterschätzt. Medical Gaslighting kommt besonders bei Krankheiten/Syndromen vor, die noch nicht gut erforscht sind und/oder mit unspezifischen Allgemeinsymptomen einhergehen.

*Ein Hypochonder ist eine Person mit extremer Krankheitssorge, die glaubt, von einer oder mehreren schweren Krankheiten betroffen zu sein bzw. sich übersteigert vor bestimmten Erkrankungen sorgt, ohne eine ärztliche Diagnose oder andere objektive Gründe dafür zu haben. Hypochonder:innen interpretieren geringfügige Körpersignale als möglichen Ausdruck schwerer Erkrankungen.

Mögliche Gründe

Bestimmt stellst du dir nun die Frage, wie es zum Medical Gaslighting kommt. Ganz wichtig ist uns dir zu sagen, dass es weder darum geht, dieses zu rechtfertigen, noch darum Ärzt:innen schlecht zu reden. Wir möchten dir hiermit aber eine entsprechende Sensibilisierung ermöglichen.

Eine Erklärung für Medical Gaslighting: Die Zeit. Unser Gesundheitssystem ist komplett “durchökonomisiert”. Um Patient:innen richtig zuhören und ihre Probleme einordnen zu können, bedarf es vor allem Zeit. Die haben Ärzt:innen häufig aber nicht. Dafür volle Wartezimmer und knappe Budgets. Da das System oft komplett überlastet ist, können nicht alle adäquat versorgt werden – eine ausreichende Betreuung sowie intensive Suche nach möglichen Differenzialdiagnosen bleibt daher aus.

Beispielsweise liegt die durchschnittliche Behandlungszeit bei Gynäkolog:innen in Deutschland bei 7 Minuten (inklusive An- und Auskleiden). Es ist daher eine logische Schlussfolgerung, dass die Behandlung und die Anamnese schnell abgehandelt werden.

Ein weiterer Faktor ist der sogenannte Gender Health Gap. Was bedeutet das? Mittlerweile weiß man, dass es in der Medizin deutliche Unterschiede zwischen Frauen und Männern gibt. So zeigen Frauen beispielsweise oftmals ganz andere Symptome bei einem Herzinfarkt als Männer1. Generell kann behauptet werden, dass die Leitsymptome von Krankheiten, wie sie in den Lehrbüchern beschrieben werden, sich auf Männer beziehen2.

Medical Gaslighting

Obwohl sich das das Wissen um die Geschlechtersensible Medizin verbreitet, bestehen immer noch große Rückstände. Das beginnt schon bei Tierversuchen. In der Regel werden nur männliche Mäuse für die Forschung genutzt, da sich diese dann insgesamt kostengünstiger und einfacher gestaltet. Der Grund dafür ist, dass bei männlichen Mäusen keine hormonellen Verschiebungen bzw. ein Zyklus vorkommt und berücksichtigt werden muss. Demnach werden die meisten Medikamente auch zum Großteil nur an Männern getestet. Dadurch fehlt es an Informationen, wie Frauen auf gewisse Umstände oder eben neue Medikamente, etc. reagieren.

Sind nur Frauen davon betroffen?

Obwohl Medical Gaslighting häufig Frauen betrifft, sind diese nicht die einzige Personengruppe.

So werden People of Colour (PoC) häufiger als schwierig und unkooperativ bezeichnet oder häufiger mit ADHS diagnostiziert als eine weiße Vergleichsgruppe4. Da sich zum Beispiel Hauterkrankungen auf schwarzer Haut anders äußern als auf weißer Haut werden PoC bei Hautbeschwerden häufig nicht ernst genommen, da Ärzt:innen meist nur das Bild bei Weißen kennen. Weiterhin halten sich schwerwiegende Vorurteile wie beispielsweise, dass People of Colour mehr Schmerz “vertragen”, als Weiße.

Eine weitere Gruppe sind Menschen, die über- oder untergewichtig sind. Schnell werden Symptome damit erklärt, dass Patient:innen “einfach abnehmen” oder “mal mehr essen sollen”. Selbstverständlich kann Über- oder Untergewicht das Risiko für bestimmte Erkrankungen erhöhen. Dennoch müssen diese Folgen ärztlich abgeklärt und therapiert werden.

Auch Trans*Personen können mitunter stark vom Medical Gaslighting betroffen sein. Ursächlich dafür ist meist das fehlende Verständnis von Ärzt:innen, was zu unangebrachten Fragen oder Äußerungen führen kann.

All diese Gruppen sind nur Beispiele. Zusammenfassend kann man sagen, dass Medical Gaslighting allgemein marginalisierte Gruppen betrifft.

Beispiele von Medical Gaslighting

Damit du in Zukunft Medical Gaslighting erkennen kannst, möchten wir dir hier ein paar Erfahrungsberichte teilen:

Die New York Times schreibt von einer 42-Jährigen Frau, die ab ihrem 20. Lebensjahr auf einmal Gewicht verlor, an Haarausfall litt und einen Ganzkörperausschlag entwickelte. Ihr Arzt begründete dies mit der Aussage, dass sie “jung, gesund aber einfach nur faul sei”. Später diagnostizierte man Morbus Basedow. Eine Autoimmunerkrankung der Schilddrüse, bei der es zu einer Schilddrüsenüberfunktion durch Autoantikörpern kommt. Auch litt sie an starken Periodenschmerzen, die fortwährend ignoriert wurden. Jahre später erkannte man bei ihr zudem Endometriose.

An dieser Stelle möchten wir dich besonders sensibilisieren, dass starke Periodenschmerzen keinesfalls normal sind! Wenn deine Hormone im Gleichgewicht sind, solltest du im Regelfall keine bis nur leichte Kontraktionen spüren. Auch Zyklusstörungen (verlängerte oder verkürzte Zyklen) oder PMS deuten darauf, dass es in deinem Hormonsystem Störfaktoren gibt. Wir haben dir ganz viel Wissen in einem Artikel über die 6 häufigsten Erkrankungen in der Frauengesundheit zusammengefasst.

Ein weiteres Beispiel für Medical Gaslighting liefert eine Journalistin, die nach der Geburt ihres Sohnes ein geschwollenes und schmerzendes Knie aufwies. Ihr Arzt sagte ihr, sie litt an einer Wochenbettdepression. Ein anderer Arzt wies sie an, abzunehmen und Kniebeugen zu machen. Zudem sei es einfach etwas, mit dem eine Frau leben müsse. Ihr Zustand verschlechterte sich so sehr, dass sie 4 Jahre später eine OP benötigte da es bei durch die Geburt ihres Sohnes zu einer Hüftdysplasie, also einer Fehlstellung des Hüftgelenkes, kam2.

Health.com berichtet zudem von einer Frau, die an starken und brennenden Beckenschmerzen litt. Sie hatte Krämpfe, eine Schwellung der Vulva und Schmerzen im unteren Rücken. Ihr wurde gesagt, dass dies nichts sei, über das sie sich Sorgen machen solle. Stattdessen solle sie sich psychiatrische Hilfe suchen. Mehrere Ärzt:innen wiesen sie ab und bezeichneten sie als vollkommen gesund. Auch ihre starke schmerzhafte Periode wurde als “normal” abgetan. Erst nach langem Suchen fand sie einen Physiotherapeuten, der ihren Schmerz ernst nahm und sie behandelte. Seit dem sei sie frei von Schmerz3.

Wie kann ich mich wehren?

Das Wichtigste beim Kampf gegen Medical Gaslighting ist, sich erst einmal bewusst zu werden, dass es dieses Phänomen gibt und daher seiner eigenen Intuition zu folgen. Wenn es sich für dich falsch anhört, dann nimm Aussagen wie: “Das ist nur die Psyche/der Stress”, “Schmerzen gehören eben zum Leben einer Frau dazu”, etc. nicht einfach hin.

Sollte dir solch ein Verhalten auffallen, dann darfst und sollst du das offen und klar ansprechen. Sollte dein:e Behandler:in immer noch nicht auf deine Beschwerden eingehen, dann kannst du dir eine Zweitmeinung einholen oder sogar eine Beschwerde bei der Ärztekammer einreichen.

Leider zeigen einige Erfahrungsberichte von Frauen, dass es mit einem Wechsel zu anderen Ärzt:innen nicht getan ist. Viele durchlaufen regelrechte Odysseen – was dich nicht entmutigen soll. Was du dann dagegen tun kannst ist in die Eigenverantwortung zu gehen. Bleibe dir treu und nimm dich selbst ernst. Vertraue auf dein Bauchgefühl. Gib deine Mündigkeit nicht an der Türklinke der Praxis ab, sondern stehe deine Frau – verschaffe dir Gehör.

Dazu kann helfen, sich selbst bezüglich seiner Beschwerden zu bilden: Recherchiere und hinterfrage! Das natürlich in einem gesunden Maße – und bitte nutze keine geläufige Suchmaschine, um Diagnosen herauszufinden. Aber vielleicht gibt es Erfahrungsberichte oder neue Studien zu deinem Thema, die du bei deinem nächsten Termin anbringen kannst. Hierbei kann auch ein Symptomtagebuch hilfreich sein, indem du aufschreibst, unter welchen Umständen und zeitlichen Zusammenhängen welche Beschwerden auftreten.

Das sagen Studien zu Medical Gaslighting

Leider ist das Thema noch nicht gut erforscht. Viele Erkenntnisse beziehen sich auch auf das psychische Phänomen Gaslighting ohne den medizinischen Kontext.

2022 gab es jedoch eine Studie von Au et al., bei der Medical Gaslighting in Bezug auf Long Covid thematisiert wurde. Denn gerade Patient:innen, die am Anfang der Pandemie Long Covid entwickelten, hatten oft mit medizinischem Fachpersonal zu kämpfen, das sie nicht ernst nahm, da sich diese des Problems noch nicht bewusst waren. Zur Analyse der Ergebnisse wurde eine Online Umfrage mit 334 Long Covid Patient:innen durchgeführt, wovon 75% Frauen waren.

Bei einer qualitativen Fragestellung (“”Wie würden Sie die Erfahrung beschreiben, medizinische Behandlung und Unterstützung für diese langfristigen Symptome von Covid-19 zu erhalten?”) stellte das Team der Forschenden fest, dass die überwältigende Mehrheit negative Interaktionen mit medizinischem Fachpersonal beschrieb (79 %), während nur 21% überwiegend positive Rückmeldung erhielten. Weiterhin wurden 34% der Befragten nach ihrer Anamnese ohne Weiteres weggeschickt, 39% hatten lange diagnostische Odysseen und 41% berichteten von fehlenden Therapieoptionen (für die aufmerksame Leserin: das ergibt über 100%, aber in diesem Fall überschneiden sich manche Antworten).

Die Befragten wiesen auch auf das mangelnde Einfühlungsvermögen des medizinischen Personals hin, das sich bisweilen “grausam und abweisend” verhielt. In diesen Fällen verwiesen die Befragten auf den Begriff des Gaslighting, um ihre Begegnungen in Kliniken und Krankenhäusern zu beschreiben. Die Studienleiter:innen bemerkten in der Befragung geschlechterspezifische Unterschiede. So brachten besonders weibliche Patientinnen Gaslighting in Verbindung mit ihrer Long-Covid Behandlung.

So berichtete eine Befragte: “Für meinen Zustand wurden folgende Gründe verantwortlich gemacht: Angstzustände und Depressionen, ‘Frauenleiden’ und als psychosomatische Probleme dargestellt” (Befragter #256).

Eine andere bemerkte: “Anfangs haben die Ärzte alles andere vermutet (Menopause, Depression). Bluttests waren (fast) normal
und ich wurde entlassen. Sie denken, nichts gefunden zu haben, bedeutet, dass nichts falsch ist, obwohl es einem offensichtlich nicht gut geht”
(Befragte Nr. 201)5.

Die Gesundheitswissenschaftlerin Jennifer Sebring beschäftigt sich in ihrem Artikel “Towards a sociological understanding of medical gaslighting in western health care” (2021) zudem über die soziologischen Aspekte Medical Gaslighting. Sie behauptet, dass dieses ein Ergebnis von tief verankerten und weitgehend unangefochtenen Ideologien sei, die im Gesundheitssektor immer noch vorhanden seien. Laut ihrer Aussage sei Medical Gaslighting im Leben von Frauen, Transgender, Intersexuellen, queeren und rassifizierten Personen, die medizinische Versorgung suchen, alltäglich. Daher bedürfe es an nachhaltigen Strategien, um dieses tiefgreifende Problem zu verstehen und dagegen vorzugehen, um langfristige Veränderungen zu schaffen6.

Ein Wort zum Schluss

Wie du sehen kannst, kann Medical Gaslighting verschiedene Personengruppen treffen und einiges an Schaden anrichten. Daher ist es wichtig, dass du lernst, dieses zu erkennen und etwas dagegen zu tun. Traue dich, Ärzt:innen direkt darauf anzusprechen, dass du dich nicht gehört fühlst und lass dich nicht einfach wegschicken. Sobald du Symptome hast, darfst und sollst du diese ernst nehmen. Immerhin kann dir keiner vorschreiben, wie du dich zu fühlen hast oder wie du Schmerz empfinden sollst.

Quellen

1: Maas, A., Appelman, Y. Gender differences in coronary heart disease. Neth Heart J 18, 598–603 (2010). https://doi.org/10.1007/s12471-010-0841-y

2: https://www.nytimes.com/2022/03/28/well/live/gaslighting-doctors-patients-health.html

3: https://www.health.com/mind-body/is-your-doctor-gaslighting-you

4: Prethibha George, Sheenu Chandwani, Molly Gabel, Christine B. Ambrosone, George Rhoads, Elisa V. Bandera, and Kitaw Demissie.Diagnosis and Surgical Delays in African American and White Women with Early-Stage Breast Cancer.Journal of Women’s Health.Mar 2015.209-217.http://doi.org/10.1089/jwh.2014.4773

5: Au L, Capotescu C, Eyal G, Finestone G. Long covid and medical gaslighting: Dismissal, delayed diagnosis, and deferred treatment. SSM Qual Res Health. 2022 Dec;2:100167. doi: 10.1016/j.ssmqr.2022.100167.

6: Sebring JCH. Towards a sociological understanding of medical gaslighting in western health care. Sociol Health Illn. 2021 Nov;43(9):1951-1964. doi: 10.1111/1467-9566.13367.

Rorison, J.:  Diskriminierung im Gesundheitssektor. Die Auswirkungen von Medical Gaslighting und Diskriminierung auf Minderheitengruppen und Frauen, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 01.11.2022, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/?p=289

https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/zu-dick-zu-schwarz-zu-weiblich-wenn-der-arzt-einfach-nicht-zuhoren-will-8602855.html

https://www.deutschlandfunknova.de/beitrag/medical-gaslighting-wenn-wir-nicht-ernst-genommen-werden

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